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Vom Fuchs, der ein Reh sein wollte

Cover Vom Fuchs, der ein Reh sein wollte

Der kleine Fuchs sucht (s)ein Zuhause

Von: Kirsten Boie (https://www.kirsten-boie.de/)

Erschienen: Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2019

Illustrationen: Barbara Scholz

Zum Inhalt:

Nach dem Waldbrand

Bei einem Waldbrand hat der kleine Fuchs seine Familie verloren. Niemand weiß, ob sie überlebt haben und, falls ja, wo sie sind. Einige Tiere des Waldes, denen die Flucht gelang, treffen sich am Abend im kühlen Schatten einer Hecke und entdecken den kleinen Fuchs, der dort einsam und zusammengekauert untergeschlüpft ist.

Zunächst wissen die Tiere nicht, wer denn dieses graue, puschelige Bündel sein könnte. Doch als sie ihn schließlich erkennen und feststellen, dass er vermutlich Waise geworden ist, überlegen sie, bei wem der kleine Fuchs bleiben könnte.

Doch Wildschweine, Waldmäuse und alle anderen reden sich heraus, bis schließlich Mama Rehs Herz erweicht und sie die Verantwortung für den kleinen Fuchs, den sie Blau-Auge nennt, übernimmt und ihm ein neues Zuhause gibt. Obwohl Füchse und Rehe in der freien Natur nicht unbedingt Freunde sind, was ihr viele andere Tiere immer wieder vorhalten.

Die Tiere des Waldes beschnuppern den kleinen Fuchs
Die Tiere des Waldes beschnuppern den kleinen Fuchs

Blau-Auges neue Familie

Blau-Auge folgt Mama Reh und seinen drei neuen Geschwistern Langbein, Vielpunkt und Glanzfell (die Namen sind selbstverständlich Programm). In seiner Einsamkeit und Trauer ist er froh über die Zuneigung und gibt sich große Mühe, sich anzupassen und wie ein echtes Reh zu leben. Doch das ist gar nicht so einfach, denn das Essen schmeckt ihm nicht und das stetige Leben über und am Tage ist auch sehr ungewohnt. Außerdem sind seine Beinchen viel kürzer, als die seiner neuen Artgenossen.

Die Patchwork-Familie findet ein neues Zuhause in einer Mulde auf einer Wiese. Als sie die Gegend erkunden, entdecken sie einen leerstehenden Menschenbau. Ein Haus. In dem Garten wachsen prächtige Rosen, an denen sie sich gütlich tun. Bis auf Blau-Auge, dem die Blüten einfach nicht schmecken wollen. Er unterhält sich lieber mit Professor Kater, der auf den Garten aufpasst, wenn die Menschen nicht da sind. Von ihm erfährt er einiges über die Zweiffüßler: „Ich pflege Umgang mit ihnen! Aber natürlich nur, wenn ich es will. Sie müssen sich schon bemühen.“ (Zitat, S. 47). (Wer schon einmal mit einer Katze zusammen gewohnt hat, wer also schon einmal Mitbewohner einer Katze war, weiß, dass es genauso ist.)

Tiere und Menschen

Im weiteren Verlauf der Geschichte erfahren wir immer mehr über die Sicht der Waldtiere auf uns Menschen. Dass sie glauben, das wir nachts dem Mond das Licht stehlen, um unsere Bauten zu erleuchten. Oder dass wir Menschen Donnerflügel haben, die Tiere aus der Ferne zu Fall bringen. Dass wir Fallen bauen, Junge bekommen und gelegentlich von Rundfüßlern (Autos) verschluckt und wieder ausgespukt werden.

Blau-Auge und Vielpunkt beobachten vorbeirasende Autos an der Landstraße
Blau-Auge und Vielpunkt beobachten vorbeirasende Autos an der Landstraße

Zu seinem Bruder Vielpunkt, der anders ist, als seine Geschwister, nämlich viel nachdenklicher und feinfühliger, entwickelt er ein freundschaftliches Verhältnis. Mit ihm zusammen erkundet er die weitere Umgebung und überquert sogar das schwarze Band mit den brummenden und stinkenden Rundfüßlern.

Hat der Fuchs die Maus gestohlen?

Als die kleine, aber angeberische Waldmaus eines Tages verschwindet, beschuldigt die animalische Gesellschaft den Fuchs, sie gefressen zu haben. „Ein Fuchs bleibt immer ein Fuchs“, heißt es seit den ersten Kapiteln immer wieder anklagend.

Für Mama Reh ist Blau-Auge als Ziehsohn nicht mehr haltbar. So muss er sein gerade erst neugefundenes Zuhause wieder aufgeben und zieht in den Wald jenseits der Straße. Er hat die Hoffnung hier seine Eltern und Brüder wiederzufinden.

Der Dachs nimmt ihn wiederwillig und ausdrücklich nur für eine Nacht bei sich auf (tatsächlich werden es mehrere Nächte). Auf Erkundung in dem unbekannten Wald trifft Blau-Auge auf einen Igel, der bezeugen kann, dass die kleine Waldmaus am schwarzen Band überfahren wurde. Außerdem taucht Vielpunkt wieder auf und will seinem beinahe-Bruder helfen, seine richtige Fuchs-Familie zu finden: „Und ein Freund lässt den Freund nicht im Stich und ein Bruder nicht seinen Bruder.“ (Zitat, S. 128)

Blau-Auge und der kleine Igel
Blau-Auge und der kleine Igel

Langbein in der Falle

Doch am nächsten Tag verschwindet Langbein, Mama Rehs Sohn, der den kleinen Fuchs von Anfang an nicht leiden konnte. Dennoch hilft Blau-Auge bei der Suche und findet Langbein in einer von Menschen aufgestellten Falle, die ihm kurz zuvor ein kleiner Frischling zeigte.

Die Lage scheint aussichtslos, denn keines der vielen Tiere, die sich nun um die Falle versammelt haben, können diese öffnen. Blau-Auge eilt zu Professor Kater und fragt ihn um Rat. Gemeinsam mit dem Hund schaffen sie es, den Menschenjungen aus dessen Bau heraus und in den Wald zu lotsen.

Die Leistung des kleinen Fuchses wird gebührend honoriert. So wird er endlich zum vollwertig anerkannten Mitglied der Wald- und Wiesengemeinschaft. Auch Langbein erkennt ihn dankbar als seinen Bruder an.

Die Falle, in der Langbein steckt
Blau-Auge hilft seinem Bruder, der in eine Falle geraten ist.

Die Geschichte vom heldenhaften Fuchs zieht immer weitere Kreise. Auf diese Weise hört Blau-Auge von einer Fuchsfamilie tief im Wald, die seit dem Brand einen Sohn vermisst. Er macht sich auf den weiten Weg und trifft am Ende der Geschichte endlich auf seine Mama, seinen Papa und seine Brüder.

Die Bilder:

Barbara Scholz und ihre Bilder kennen wir schon aus dem wunderbaren Buch „Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika“ (https://lesebengel.de/wir-sind-nachher-wieder-da-wir-muessen-kurz-nach-afrika-abenteuerliche-reise/). Und wieder gelingt es der Illustratorin die Stimmung der Geschichte aufzufangen und verstärkt wiederzugeben. Die Farben sind warm und unaufdringlich, so dass die kleinen Zuhörer darin versinken können, ohne den Faden zu verlieren.

Durch die großen Kulleraugen wirkt nicht einmal der grantige Keiler wirklich gefährlich – allenfalls etwas unsympathisch. Die weichen Konturen tragen dazu bei, dass man diese Waldtiere einfach gern haben muss.

Die Waldtiere beratschlagen, wie sie Langbein retten können.
Die Waldtiere beratschlagen, wie sie Langbein retten können.

Dank typischer Merkmale, sind alle Hauptfiguren leicht zu erkennen und ihrer Art zu zuordnen: Die Hasen verfügen über die charakteristischen Zähne und Ohren, der Frischling hat seine hellen Streifen (die der Fuchs ziemlich komisch findet: „Ich muss aufpassen, dass ich nicht lache, Auslachen ist ja gemein.“ Zitat, S.94) und die Protagonisten Vielpunkt und Blau-Auge haben natürlich viele Punkte, bzw. blaue Augen.

Der Text ist zum großen Teil fließend in die großformatigen Bilder eingefügt. Einige (Doppel-)Seiten kommen ganz ohne Bilder aus, was den Oberarmen beim Vorlesen eine Pause verschafft. Denn bei mehreren Zuhörern gilt es, die Arme krakenmäßig zu verbiegen, damit alle jedes kleinste Detail im Bild entdecken können („Mama, dein Daumen stört!“).

Fazit und Moral von der Geschicht‘:

Trendthema Wald

Bücher zum Thema Wald liegen derzeit voll im Trend. Viele der Neuerscheinungen befassen sich auf sachlicher Ebene mit dem Wald und thematisieren ihn als bedrohtes und schützenswertes Ökosystem. Natürlich gerne im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der stattfindenden ökologischen Krise.

Kirsten Boie geht das Thema Wald, wahrscheinlich ganz bewusst, anders an. Für die Tiere, ihre Protagonisten ist er nämlich einfach deren Zuhause. Wenn Kinder diese Geschichte hören oder selbst lesen, verstehen sie, dass der Wald schützenswert ist, ohne dass es auch nur einmal explizit gesagt oder gar eingefordert wurde.

Außerdem wird deutlich, wie sehr der Mensch in dieses Ökosystem eingreift und das Leben der Tiere direkt beeinflusst. Das Verhältnis von Mensch und Tier ist immer wieder Thema des Buches und wird konstant aus Sicht der Tiere geschildert (sprachlich war das für meine Erwachsenenohren an einigen wenigen Stellen etwas zu viel – den Kindern hat es aber gefallen und sie wussten immer gleich, was mit Rundfüßlern, dem Schwarzen Band etc. gemeint war).

Auch durch die gelungenen Illustrationen wird der Wald, bei Tag wie bei Nacht, als ein lieblicher Ort und sicheres Zuhause dargestellt. Eine schöne Botschaft.

Schwere Themen gut verpackt

Die Einleitung beruhigt schon einmal vorab und bereitet die Zuhörer behutsam auf den ersten Schrecken vor, nämlich, dass der kleine Fuchs seine Familie bei einem Waldbrand verloren hat, und niemand weiß, ob sie noch am Leben sind. Waldbrand? Genau, kennen wir nicht nur vermehrt aus den Nachrichten, sondern auch aus Bambi.

Flucht vor dem Waldbrand
Flucht vor dem Waldbrand

Bei den Themen Tod und Verlust findet die Autorin einen ehrlichen Umgang, ohne dass das zuhörende oder mitlesende Kinderherz dabei zu schwer wird.

Die unterschiedliche Charakterisierung von Mama Rehs Kindern ist wohl durchdacht und macht deutlich, dass jedes Kind etwas Besonderes ist. Und dass sich jedes einzelne Kind, der Liebe der Mutter sicher sein kann. Trotz aller Fehler und Schwächen.

Fremdsein und dazugehören

Ein Schlüsselsatz des Buches lautet: „Ein Fuchs bleibt immer ein Fuchs.“ Blau-Auge wird das zum Vorwurf gemacht. Langbein und auch einige andere Waldtiere machen dadurch deutlich, dass sie dem kleinen Fuchs niemals vertrauen werden. Dass er niemals voll und ganz zu ihnen gehören und von ihnen akzeptiert wird. Anpassung, Integration, Fremdsein, Fremdfühlen sind Leitthemen der Geschichte. In Tiergestalt verpackt, gut verständlich für die Kleinsten.

Die Autorin spart nicht mit Witz an Textstellen, wo Witz richtig gut tut: „‘Mama!‘, weint da das kleine graue Puschelige […] ‚Es sagt schon wieder, dass es Mama heißt!‘, sagt Glanzfell empört.“ (Zitat, S.13). So gibt es für Groß und Klein immer wieder Anlässe zum Schmunzeln.

Am Ende hören wir Vielpunkt noch etwas sehr wichtiges sagen, das sich problemlos auf aktuelle Debatten übertragen ließe: „Ein Reh bist du nicht geworden, und das ist ja auch richtig so: Jeder darf sein, wer er ist! Aber auch wenn wir alle ganz verschieden sind, können wir doch trotzdem allerbeste Freunde sein.“ (Zitat, S. 192)

Blau-Auge findet seine Familie wieder
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