Räubergeschichte wild und tiefgründig zugleich
Von: Astrid Lindgren
Illustration: Ilon Wikland
Erschienen: Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 1981
Zum Inhalt:
Stelle Dir einmal den perfekten Wald vor. Es gäbe uralte Bäume, dichtes Unterholz, große Felsen, Hügel und Kuhlen und sicherlich auch einen wilden Fluss, oder?
Genau in einem solchen Wald lebt Ronja. Sie ist die Tochter von Lovis und Mattis, dem Räuberhauptmann einer 12-köpfigen Räuberbande. Gemeinsam leben sie tief in diesem Wald auf einer Burg.
Die Räubergeschichte beginnt in einer Gewitternacht
In der Nacht, in der Ronja geboren wurde, tobte ein schreckliches Gewitter. Ein Blitz traf die Burg und trennte den Nordteil vom Rest der Burg ab. Fortan verlief eine tiefe Schlucht, der Höllenschlund, mitten durch die Burg.
Mit dieser Szene beginnt die Räubergeschichte so stimmungsvoll, dass man einfach weiterlesen muss. Die Atmosphäre erfüllt den Raum zwischen Vorleser und Zuhörer, man meint selbst am offenen Kamin zu sitzen und das Prasseln des Feuers hören.
Ronja und ihre Familie
Im ersten Kapitel lernen wir die gesamte Mannschaft kennen. Mattis ist ein raubeiniger und aufbrausender Kerl. Ein streitsüchtiger Wildling, der keine Auseinandersetzung scheut. Besonders wenn es um seine Tochter geht. Niemand darf es wagen, etwas gegen seine Ronja zu sagen. Nicht einmal Glatzen-Per, dem Ältesten der Bande und Mattis‘ engstem Vertrauten. In seinen Augen ist sein Kind perfekt und er liebt sie über alles. „Du Kind, in diesen kleinen Händen hältst du schon jetzt mein Räuberherz“ (S. 7), sagt Mattis, als er sein Baby das erste Mal im Arm hält.
Aber er ist übertrieben ängstlich und schafft es nur unter Tränen, Ronja ziehen zu lassen. Ja, der gefürchtete Räuberhauptmann weint und zeigt Gefühle. Und das nicht zu selten.
Auch Lovis liebt ihr Ronja-Kind über alles, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Weniger dramatisch, eher geprägt von einer klaren, vernünftigen Sichtweise. Sie weiß, dass man Kindern nicht die Flügelstutzen darf. Sie lässt Ronja ziehen, obwohl es ihr das Herz bricht. Dennoch kümmert sie sich weiter um ihre Tochter und versorgt sie auch aus der Ferne.
Die anderen Räuber werden zwar namentlich erwähnt, treten aber nur vereinzelt kurz auf. Das Räuberleben wird so wildromantisch beschrieben, wie man es sich vorstellt. Tagsüber erfolgreiche Raubzüge, abends Fress- und Saufgelage, Geschichten und Lieder am Feuer. Und über allem ganz enge Kameradschaft und Zusammenhalt.
Mattisräuber vs. Borkaräuber
In der Hauptsache geht es in dieser Räubergeschichte aber natürlich um Ronja. Um sie und ihren Freund und Nenn-Bruder Birk. Birk ist in derselben Nacht geboren, wie Ronja. Die beiden lernen sich kennen, nachdem die Borka-Räuber aus ihrem Teil des Waldes vertrieben wurden und aus der Not heraus, den abgetrennten Teil der Mattis-Burg bezogen.
Die beiden Sippen sind sich seit Jahrzehnten spinnefeind. Warum weiß keiner mehr so genau. Da scheint es erstmal klar, dass Ronja und Birk sich bei ihren ersten Treffen auch feindlich gegenüber stehen.
Die Mattisräuber schaffen es nicht, die Borkaräuber aus der Burg zu vertreiben, so dass die beiden Kinder sich häufiger begegnen. Sie retten sich sogar gegenseitig das Leben und Ronja spürt widerwillig, dass sie Birk doch irgendwie mag. Und er sie.
Ab jetzt zu zweit
Kurz vor Einbruch des Winters beschließen sie von nun an Bruder und Schwester zu sein.
Während des buckligen Winters, versorgt Ronja ihren Bruder immer wieder heimlich mit Lebensmitteln und rettet ihn so vor dem Verhungern.
Und als nach vielen endlosen Wochen endlich der Schnee schmilzt, erkunden die beiden Kinder endlich wieder gemeinsam den Wald. Das Erleben des Waldes und der Jahreszeiten ist ein zentrales Thema des Buches. Astrid Lindgren beschreibt einzigartig schön und treffend zugleich, wie sich der Sommer anfühlt, wie es in einem Herbstwald riecht oder wie sich der Frühling in der Natur, aber auch im eigenen Körper ausbreitet. „Lange saßen sie still da und waren mitten im Frühling. […] Fuchswelpen tollten nur einen Steinwurf von ihnen entfernt vor ihrem Bau. […] Der Frühling gehörte allen.“ (S. 108).
Das wildromantische Naturerleben wird jedoch überschattet, da sich die Zwei nach wie vor nur heimlich treffen können. Schuld daran sind ihre starrköpfigen Väter, die es nicht schaffen einen uralten Konflikt zu überwinden.
Kindsräuber
Eines Tages kommt es zu einem fatalen Ereignis und damit zur Wendung in der Räubergeschichte. Birk wird von den Mattisräubern gefangen genommen. Am Höllenschlund soll über seine Freilassung verhandelt werden. Ronja beweist ihre Liebe und Freundschaft zu Birk und liefert sich durch einen beherzten Sprung über den Höllenschlund den Borkas aus.
Mattis kann nicht fassen, was seine Tochter da tut und sagt das Schlimmste, was ein Vater sagen kann: „Ich habe kein Kind.“ (S. 131)
Nach dem anschließenden Geiselaustausch wissen alle, dass Birk und Ronja zusammenhalten, was auch passieren mag. Das Verhältnis zwischen den Kindern und deren Eltern ist vollkommen zerrüttet. Nur Ronja und Lovis können noch miteinander. Doch die Stimmung in der Burg ist so düster, dass Bruder und Schwester beschließen in die alte Bärenhöhle tief in den Wald zu ziehen und dort zu leben. Für immer.
Im Wald
Gemeinsam bauen sie sich ein richtiges Zuhause auf und meistern allerlei Herausforderungen: Beschaffung von Nahrung und Wasser, einen Streit um den Verbleib ihres Messers und Zusammentreffen mit den Wesen des Waldes, den Graudruden, Dunkeltrollen, Rumpelwichten und Unterirdischen.
All diese Wesen bevölkern den Wald, der so zu einem noch magischeren Ort wird. So magisch und geheimnisvoll, wie Wälder nur sein können, wenn sie nicht von dichten Wegenetzen und Rückegassen durchzogen sind.
Zweimal bekommen die jungen Aussteiger Besuch von der Mattisburg. Und jedes Mal hat Birk Angst, dass Ronja ihn verlassen könnte. Obwohl er eigentlich auch möchte, dass sie geht. Denn er weiß genau, dass der Winter im Wald den sicheren Tod bedeutet. Doch zurück zu ihren Familien zu gehen, kommt für beide zunächst noch nicht in Frage.
Sommer-Abenteuer
Der Bedrohung durch die lebensfeindliche Jahreszeit trotzend, genießen sie die warme Jahreshälfte in vollen Zügen. „‘Wir haben jetzt Sommer, meine Schwester‘, sagte Birk. Und Ronja spürte im ganzen Körper, dass es so war. ‚Diesen Sommer werde ich in mir tragen solange ich lebe‘, sagte sie.” (S.177)
Sie zähmen Wildpferde, machen lange Ritte und Wanderungen durch den Wald, Baden, Jagen, Fischen. Und nur knapp entrinnen sie den Grausedruden, die Jagd auf sie machen. Alles in allem leben sie ein abenteuerliches und friedvolles Leben in wilder Natur und größtmöglicher Freiheit. So wie es sich jedes Kind wohl einmal zu erleben wünscht.
Die Gedanken an den nahenden Winter schieben sie weit von sich. Bis es eines Tages nicht mehr geht. Denn es wird kälter und nasser und noch kälter.
Der Winter kommt
Dann eines Tages, als der Frost den Wald schon im morgendlichen Griff hat, sucht Mattis die beiden auf. Endlich kommt es zur langersehnten Versöhnung. Mattis springt, etwas behäbig, über seinen eigenen Schatten und lädt Birk ein, mit Ronja in die Mattisburg zu ziehen.
Birk wird aber so herzlich von seinen eigenen Eltern willkommen geheißen, dass er doch beschließt bei ihnen zu wohnen. Aber natürlich dürfen er und seine Schwester sich jederzeit besuchen.
So steuert die Räubergeschichte auf ein Happy End zu.
Endlich Frieden
Nach einem fairen Zweikampf Mann gegen Mann, schließen Borka und Mattis und ihre Sippen den langersehnten Frieden. Doch damit ist die Räubergeschichte noch nicht beendet.
Inmitten der dunkelsten Jahreszeit stirbt der alte Glatzen-Per. Die Trauer der Räuber, von Lovis und Ronja und vor allem von Mattis wird sehr einfühlsam und kindgerecht beschrieben. Die Botschaft ist, dass manchmal einfach etwas Zeit vergehen muss. Und auch wenn es scheint, dass niemals wieder gelacht werden wird auf der Burg, kommt der nächste Frühling.
Das Licht und die Wärme kehren zurück. Und das Lachen. Denn nichts ist so stark, wie das Leben selbst. „…und ringsum ist alle Herrlichkeit des Frühlings. In allen Bäumen und allen Wassern und allen grünen Büschen lebt es, es zwitschert und rauscht und summt und singt und plätschert, überall erklingt das frische, wilde Lied des Frühling.“ (S.234)
Kurz vor seinem Tod verriet Glatzen-Per Ronja noch ein Geheimnis. Ein Geheimnis, welches ihr und Birk ein Leben ohne Räuberei ermöglichen wird. Doch lest selbst!
Die Bilder:
Die Bilder passen von der Atmosphäre her gut zu den bedrohlichen Szenen in der Geschichte. Sie sind in Schwarzweiß gehalten und transportieren eine gewisse Unheimlichkeit.
Heitere und ausgelassene Szenen hätten mir in einer klareren Interpretation wahrscheinlich etwas besser gefallen, sprich deutlichere Konturen, weniger Striche. Auch mein Sohn fragte das ein oder andere Mal, warum die Menschen so komisch aussähen. Emotionen auf den Gesichtern waren für ihn nicht immer leicht zu deuten.
Fazit und Moral von der Geschicht´:
Ein Mädchenbuch für Kerle
Ich wusste nicht, wie meine Jungs reagieren würden, wenn wir ein Buch lesen, in dem es um ein Mädchen geht. Schließlich sind sie doch große, starke Kerle. Und Mädchen sind…naja…irgendwie igitt…
Aber zum Glück wimmelt es in diesem Buch auch so vor großen, starken Kerlen. Und die Hauptfigur ist ein Mädchen, das man einfach gern haben muss. Auch als vier- oder fünfjähriger Junge.
Ich bin sogar der Meinung, dass diese Räubergeschichte ideal für Jungen zum Vorlesen ist. Ganz selbstverständlich wird mit den klassischen Rollenbildern aufgeräumt. Mädchen sind stark und mutig, Männer weinen, Erwachsene sind stur, Kinder klug und weise.
Und kaum ein Kapitel vergeht ohne einen kräftigen Räuberfluch, was meinen Söhnen natürlich überaus gutgefallen hat. Und wenn sie durch unseren Garten toben und rufen: „Ich schick dich mit einem Furz zum Donnerdrummel, du alter Rumpelwicht!“, so entbehrt das nicht eines gewissen Charmes.
Ein Kinderbuch für Erwachsene
Besonders schön an diesem Buch ist, dass auch Erwachsene eine Menge lernen können: Es ist wichtig, Kinder ziehen zu lassen. Wir haben gar keine andere Wahl. Sie wollen und müssen selbstständig leben und ihre eigenen Erfahrungen machen.
Dabei ist es notwendig, dass wir sie dennoch beschützen. In dem Sinne, dass wir immer für sie da sind und im kalten Winter ein sicheres Zuhause mit wärmendem Feuer bieten können.
In Zeiten, in denen viele Eltern gerne auf Helikopterrundflug rund um ihre Kinder gehen, ist es umso wichtiger, Kindern Freiräume zu lassen. Dass sie Abenteuer ohne Überwachung erleben, dass sie ihre Erfahrungen machen und Freiheit spüren. Mit den Gefahren, die dazu gehören. Die Grausedruden und die Unterirdischen können dabei sinnbildlich für die Gefahren unserer Zeit gesehen werden.
Doch natürlich nicht nur die Eltern, auch die Kinder selbst müssen mit dem Erwachsenwerden klarkommen. Das macht Astrid Lindgren deutlich. Sie lernen sich selbst kennen, spüren, was ihnen wichtig ist. Beschließen, dass sie vielleicht nicht denselben Weg einschlagen wollen, wie ihre Eltern einst, und emanzipieren sich von ihnen.
Sie lernen das andere Geschlecht kennen: Es gibt zweierlei Kinder, „solche, die zu Mattissen wurden, wenn sie groß waren, und solche, die zu Lovisen wurden.“ Damit verbunden sind natürlich auch unklare Gefühle, die Kinder erst einmal begreifen und einordnen müssen.
Eine Räubergeschichte über Beziehungen
Hilfreich sind, und auch das wird wunderbar deutlich, tiefe Beziehungen zu Vertrauten. Ob es nun Beziehungen zwischen Mutter und Kind, Vater und Kind, zwischen Männern oder zwischen Kindern sind. Sie geben uns Halt und lassen uns selbst schlimmste Katastrophen überstehen:
Ronja Räubertochter erlebt, wie ihre heile Welt zerbricht und nichts bleibt als Traurigkeit. Aber sie erfährt eben auch, wie alles wieder gut wird. Dank der festen Beziehung zu Familie und Freunden.
Ein Loblied auf die Natur
Das freie Leben in dem ursprünglichen Wald zieht sich als roter Faden durch das Buch. Es geht um die pure Lebensfreude in jeder Altersstufe. Um das Erleben, mehr noch, um das Fühlen der Jahreszeiten. Einfach gesagt um das Leben im Einklang mit der Natur.
Ronja und Birk leben mit dem Wald und mit den Tieren: „Es ist auch der Wald der Wölfe und der Bären, der Elche und der Wildpferde.“ (S.55) Die beiden sind dankbar für die Gaben, die sie erhalten, zum Beispiel die Milch der verletzenden Stute, die sie gesund pflegen: „Und ich danke dir für die Milch, die du uns gegeben hast.“ (S.165)
Absolut und unbedingt empfehlenswert
Diese wunderbare wilde und doch tiefgründige Räubergeschichte eignet sich dank der abenteuerlichen Atmosphäre auf jeden Fall zum Vorlesen für Kindergartenkinder. Nur zu ängstlich sollten sie nicht sein, denn die Fabelwesen des Waldes können einem schon einen gehörigen Schrecken einjagen.
Aber auch für erfahrene Selbstleser von 10-12 Jahren ist das Buch sicherlich spannend. Denn sie befinden sich etwa in dem Alter, wie die beiden Hauptfiguren. Und auch wenn die Story zu einer ganz anderen Zeit spielt, dürften sie sich schnell in die Lebenswelten von Ronja und Birk einfinden.
Ronja Räubertochter ist unter den Top 3 meiner Astrid Lindgren Favoriten und gehört in wirklich jedes Bücherregal! Zum Donnerdrummel!
Diese Buch ist ist absolut zeitlos. Alle Erwachsenen dieser Welt sollten es lesen, sind sie doch die Vorbilder der Kinder. Sollten es zumindest sein!
Meistens zeigen es uns unsere Kinder wo es lang geht und wir Erwachsenen stehen ziehmlich dumm da. Wir sollten viel mehr auf unsere Kinder hören!!